Die Farben des Sommers: rot, weiß oder rosé
Wenn die Tage länger werden und die Tische der Bars endlich wieder draußen stehen, weiß man spätestens, dass es nun Sommer ist. Getränke welche dieses Jahr ins Glas kommen, haben ihren Ursprung bei dem Cocktail-Paps Jerry Thomas und tragen die Farben rot, weiß rosé.
Vorhang auf – die Vorstellung beginnt
Einige Akteure betreten die Bühne – sprich die Theke – die seit langem im Hintergrund agieren, sich aber für den kommenden Sommer gerne wieder empfehlen möchten. Weitere Auftritte sind höchst erwünscht – und so reihen sich Rot- und Weißwein wieder ganz vorne ins Flaschenregal ein, um sich auf die kommende Spielzeit vorzubereiten. Die beiden können zusammen mit ihrem roséfarbenen Mitspieler den heißen Sommertagen optimistisch entgegensehen, denn mit den Temperaturen steigt auch an der Theke die Sehnsucht nach leichten, frischen Drinks mit spritziger Note und sommerlichem Garnish.
Auf den Spuren von Jerry Thomas
Wein gilt ja gemeinhin als Begleiter zu erlesenen Speisen und somit als Solokünstler, dessen Anwesenheit bei einem festlichen Mahl unabdingbar ist. Doch die graue Eminenz der Getränkewelt wird nicht leugnen können, dass er bereits ein Star am Barhimmel war, als der „Cocktail-Papst“ Jerry Thomas 1862 in seinen „Bartender’s Guide“ interessante Weinkompositionen schrieb. Einige davon sind auch heute noch echte Klassiker oder könnten es wieder werden. Nicht immer hatte Thomas recht: der deutschen Weinschorle – die er in sein Buch als Mix aus Rheinwein und Selters aufnahm –räumte er keinerlei Zukunftschancen ein. Heute weiß man es besser: Weinschorle süß oder sauer sind DIE alkoholreduzierten Getränke, wenn Fantasie oder entsprechende Angebote fehlen, der Durst aber ebenso groß ist wie die Abneigung vor Wasser “pur”. Aber mit seiner klerikalen Serie schuf Jerry Thomas echte Gewinnertypen, die auch heute auf jeder gut sortierten Barkarte stehen sollten.
Beamt man beispielsweise den „Bishop“ an die Theke von heute, dann könnte seine Rezeptur etwa so lauten: 1 Teelöffel Puderzucker, 2 Spritzer Jamaika Rum und 200 ml leichter Rotwein werden im Shaker kräftig durchgerüttelt. Auf reichlich Eiswürfeln kräftig schütteln, ins vorgekühlte Weinglas doppelt abseihen und mit Zitronenscheiben garnieren. Wollte Thomas dem „Bischof“ zu höheren Weihen verhelfen, ersetzte er für den „Archbishop“ den Rotwein durch Port, für den „Cardinal“ durch Champagner. Zum „Pope“ wurde der „Cardinal“ durch Burgunderwein statt Champagner; auch eine scharfe Variante mit weißem Pfeffer und eine preußische mit eingelegten Bitterorangen empfahl Thomas seinen Bartender-Kollegen und der interessierten Cocktailgemeinde. Hier hat der kreative Barkeeper also ein Manual an der Hand, aus dem sich phantasievolle feucht-fröhliche Gestalten entwickeln lassen.
Der New York Sour
Aber nicht nur Jerry Thomas wies den Weg. In den 1880er Jahren erklomm ein weiterer Klassiker den Tresen: der New York Sour, der unter der Bezeichnung Southern Whiskey Sour oder Continental Sour erstmals ins Glas kam. Ursprünglich wurde der Whisky nur mit Bordeaux gefloatet, später kam eine Variante mit Eiweiß dazu, die heute an keiner Bar fehlen sollte, die etwas auf sich hält: 6 cl Bourbon oder Rye (z. B. High West Distillery Double Rye Whiskey), 3 cl frischgepresster Zitronensaft, 2 cl Zuckersirup und ein Eiweiß werden zuerst ohne, dann mit Eis kräftig geshaked, in einem vorgekühlten Tumbler abgeseiht und mit trockenem Rotwein gefloated. Die Idealbesetzung ist Bordeaux, serviert wird ohne Garnish. Aber nur, wenn das Verhältnis zwischen Wein und Whisky ausgewogen ist, hat dieser Mix das Zeug zum Siegertypen. Also eine kleine Herausforderung für den Profi-Bartender.
Aber nicht nur der dunkelrote Rebensaft ist ein geschätzter Gast; ob die englische Queen Victoria sich einen „Hock Martini“ mixen ließ – wer weiß? Auf alle Fälle schätzte sie den Riesling aus den Anbaugebieten rund um die Weinstadt Hochheim am Main und legte mit ihrem Ausspruch „Good Hock (= Hoch) keeps off the doc“ das Motto für einen Cocktail, in dem der Weißwein aus dieser Gegend zu Ehren kommt: 6 cl trockener Riesling, 2 cl Gin und ein Schuss Apricot Brandy werden auf viel Eis gründlich gerührt und in die vorgekühlte Cocktailschale abgeseiht. Eine getrocknete Aprikose ist das Tüpfelchen auf dem Martin-I. Auch dieser schneidige Geselle hat das Zeug zum Thekensieger.
Von Sangria und Cold Duck
Daneben gibt es einige Rot- und Weißweinkreationen, die gerne einfach durchgewunken werden, weil man mit ihnen reichlich Schindluder verbindet. Die Sangria ist so ein Kandidat. Wer diese leichte Rotweinbowle mit Plastikeimer und Zuckerwasser assoziiert, tut ihr aber wirklich unrecht: aus einem kräftigen Rioja, viel Eis und frischem Obst erwacht ein wunderbar süffiger Drink, wenn man den Aromen etwas Zeit gibt, sich zu verbinden und auf den Zusatz von Zucker verzichtet. Außerdem hat die Sangria eine kleine blonde Schwester, die mit trockenem Weißwein, einem Schuss Holunder- und Orangenlikör sowie fruchtigen Zutaten nach Wahl zu einem sensationell frischen Sommergetränk erwacht. Hier hat der Barkeeper freie Bahn … bei der Fruchtauswahl sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt; und die beiden haben es wirklich verdient, dass ihr guter Ruf wieder hergestellt wird. Auch der „Cold Duck“, die beileibe keine lahme Ente ist, sollten wieder Flügel wachsen, damit sie Sommerfeste und Bartische wieder erobern kann: die 1:1-Mischung aus Sekt und Riesling verleiht vielleicht keine Adlerschwingen, aber als Sommer-Abend-Drink ist sie ein Überflieger.
Sommerliche Mixgetränke
Ob rot, ob weiß – Wein in sommerlichen Mixgetränken verringert nicht nur den Alkoholgehalt von Cocktails, er entlockt den einzelnen Zutaten ihr Innerstes: würzige Kräuternoten steigen in die Nase, fruchtige Aromen kitzeln den Gaumen, denn Wein überlagert den Duft der Ingredienzien nicht, sondern lässt sie schweben. Außerdem bietet der Wein eine riesige Bandbreite an Geschmacksnuancen: ob kräftiger spanischer Rioja oder spritziger Moselweißwein, halbsüße Malvasia-Traube oder sehr trockener Refosco – jeder Cocktail verlangt „seinen“ Wein.
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